Okinadvent – 11. Türchen

Die dritte Hakkero wirft mehr Licht auf die Geschichte von Ine, die auf der Suche nach ihrem verlorenen Freund Naonari ist, und dabei so mache außergewöhnliche Bekanntschaft macht.

Was vorher geschah …

Der Adler, der Käfer und der Fuchs

Ine war untröstlich, als sie von Naonaris Verschwinden erfuhr. Was aus ihm geworden ist, konnte niemand sagen. Alles, was die anderen Jungen, mit denen er am Nachmittag unterwegs war, wussten, war, dass er sie kurz vor Sonnenuntergang verlassen und alleine in Richtung des nahegelegenen Waldes aufgebrochen war. Viele Tränen wurden vergossen, und die kleine Ine verbrachte fast den gesamten Rest des Winters trauernd in ihrem Zimmer. Erst, als der Winter beinahe vorbei war und der Schnee bereits anfing zu tauen gelang es ihrer Großmutter, das Mädchen soweit zu trösten, dass Ine erneut vor die Tür gehen wollte.

Doch anstatt mit den anderen Kindern des Menschendorfes zu spielen, wanderte Ine gedankenverloren durch die Straßen und Gassen, ohne darauf zu achten, wohin sie eigentlich ging. Sie hob erst den Blick vom Boden, als sie sich auf dem großen Dorfplatz wiederfand, direkt vor dem Sockel der großen Drachenstatue stehend. „Mein Naonari ist tot und kommt nie wieder“ klagte sie der Statue ihr Leid, und die Augen des Drachen strahlten unbeirrt in einem aufmunternden Weiß. Ihr Weg führte Ine weiter, sie verließ das Dorf und fand sich bald auf der weiten Ebene jenseits der Mauern wieder, wo sie sich auf einen Felsen kauerte und erneut in ihrem Kummer versank. Plötzlich schreckte sie auf, als sie etwas Kaltes und Nasses am Hinterkopf traf. Sie drehte sich um und sah eine Bande von Feen, die sich eine Schneeballschlacht lieferten und sich dabei immer weiter in ihre Nähe drängten. „Mein Naonari ist tot und kommt nie wieder“ sprach Ine, und für einen kurzen Moment hielten die kleinen Wesen inne. Doch schon fuhren sie mit ihrem Spiel fort und schnatterten dabei „Nein, das glauben wir nicht, absolut nicht, nein, das ist total unglaublich.“ Bald darauf ging der Nachmittag in den Abend über, und Ine machte sich auf den Weg zurück ins Menschendorf.

Als Ine in der darauffolgenden Nacht im Bett lag und die Zimmerdecke anstarrte, fasste sie einen Beschluss. Sie würde nicht weiter Trübsal blasen, sondern sich aufmachen, um ihren Freund zu suchen, denn die tröstende Ruhe der Drachenstatue und das Plappern der Feen hatte Zweifel in ihr geweckt, dass Naonari tatsächlich gestorben sein sollte. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass er noch am Leben ist, würde sie ihn finden, das nahm sie sich ganz fest vor.

Der nächste Morgen war grau und wolkenverhangen. Ine stand besonders früh auf, gab ihrer noch schlafenden Großmutter einen Kuss, und machte sich zusammen mit einer ihrer Puppen auf den Weg zum nahegelegenen Fluss. Sie hatte schon öfters beobachtet, dass die Erwachsenen ihre Sorgen einer kleinen Strohfigur, und diese den Wellen übergaben, und die Großmutter hatte ihr gesagt, dass man so das Unglück loswerden könnte. Unglück konnte sie auf ihrer Suche nicht gebrauchen, und obwohl sie sehr an ihrer Puppe hing, war dies ein Opfer, dass sie zu erbringen bereit war, wenn es nur bedeutete, dass sie Naonari finden würde. So stand sie am Ufer des zugefrorenen Flusses und redete sich ihren Kummer von der Seele, während die Puppe geduldig zuhörte. Doch neben der Puppe hörte auch jemand anderes zu. Nicht weit entfernt, aber doch so leise, dass Ine es nicht hören konnte, erklangen aus dem Nichts mehrere Stimmen. Sie flüsterten nicht, und doch waren sie so unhörbar wie ein Schlaflied in einem tobenden Sturm. „Armes Kind, das kann man sich ja gar nicht anhören.“ „Genau, ich finde, wir sollten ihr helfen!“ „J-ja, schon, aber ihr wisst doch, was der Boss gesagt hat … Nur patrouillieren, und unauffällig verhalten.“ „Und selbst wenn, mein Radar hat immer noch nur eine mäßige Reichweite. Wir müssten wahrscheinlich halb Gensoukyou ablaufen, um diesen verschwundenen Menschen zu finden.“ Die Besitzer dieser Stimmen waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie Ine Schritt für Schritt über das Eis ging, um ihre Puppe in den noch nicht zugefrorenen Teil in der Mitte des Flusses zu werfen. Erst das Bersten von Eis riss sie aus ihrer Diskussion. „Vergesst die Befehle, das ist ein Notfall!“ rief eine der Stimmen, und mit einem Flackern erschienen wie aus dem Nichts vier kleine, mit seltsam anmutenden Rucksäcken und Gerätschaften beladene Gestalten, die am Flussufer entlang eilten, um Ine aus dem eisigen Wasser zu retten.

Als die vier Kappa, denn um diese Wesen handelte es sich, es endlich geschafft hatten, Ine an Land zu ziehen, war das Mädchen bereits bewusstlos und ganz blau gefroren. „Was nun? Zurück zur Basis können wir sie nicht nehmen, der Boss wäre richtig sauer.“ „Hm … Der Unterschlupf der Einsiedlerin ist doch hier in der Nähe, nicht?“ „Uwaah, sollen wir sie etwa den halben Berg hoch schleppen?“ „Nun stell dich nicht so an, wenn wir noch länger warten, wird selbst die Einsiedlerin das arme Kind nicht mehr retten können.“ Daraufhin holte eine der Kappa aus ihrem Rucksack eine geflickte, aber dennoch warm wirkende Decke, in die sie Ine einmummelten, und gemeinsam schleppten sie das Bündel in Richtung eines Berges. Nach einer Weile kam ihnen ein Tiger entgegen, auf den sie nach einem kurzen Schreckmoment das immer noch bewusstlose Mädchen aufluden, und schon war der Weg etwas einfacher.

Ine erwachte in einem fremden Bett, unter einer schweren Decke. Der Raum, in dem sie sich wiederfand, war groß und hell, völlig anders als die beengten Kammern, die sie von zuhause gewohnt war. Auch war es erstaunlich warm, ohne, dass Ine den Geruch von brennendem Feuerholz hätte wahrnehmen können. Sie richtete sich im Bett auf und entdeckte neben sich ihre eigenen Winterkleider, säuberlich zusammengelegt, sowie einen simplen Rock und eine Bluse, die viel eher zu diesen Temperaturen passten. Als sich das Mädchen gerade angezogen hatte, öffnete sich eine Schiebetür und eine junge Frau, die ein Tablett mit einer dampfenden Schüssel trug, betrat den Raum. „Ah, wie wundervoll, du bist schon erwacht. Aber lege dich bitte erst einmal wieder hin, denn du hast in den letzten Stunden viel durchgemacht und musst dich schonen.“ Die Ausstrahlung dieser Frau hatte etwas Beruhigendes, aber wirkte gleichzeitig auf eine seltsame Art und Weise uralt und übermächtig. Ine folgte ihrer Bitte und legte sich wieder ins Bett, woraufhin die Frau neben ihr Platz nahm und ihr einen Löffel der heißen Suppe anbot, die sie hereingebracht hatte. „Hier, iss etwas, damit du wieder zu Kräften kommst.“ Während sie aß, nahm Ine ihre Gastgeberin etwas genauer in Augenschein. Ihr rechter Arm war vollständig unter Bandagen versteckt, und am Linken trug sie einen außerordentlich schwer aussehenden eisernen Armreif.

Was Ines Blick aber besonders einfing, war die Rose, die die Frau knapp unterhalb des Kragens auf ihrem Tabard trug. Sofort überkamen das Mädchen die Erinnerungen an die Rosen vor ihrem Fenster und an Naonari, und sie begann unkontrolliert zu schluchzen. Die Frau nahm sie tröstend in die Arme, und unter Tränen berichtete Ine ihr von den Geschehnissen. Als sie geendet hatte, strich ihr die Gastgeberin noch einmal sanft über das Haar, und Ine fühlte sich plötzlich unglaublich müde, sodass sie wenige Momente später eingeschlafen war. Daraufhin stand die Zauberin auf und breitete ihre Arme über dem schlafenden Mädchen aus. Sie war keineswegs bösartig, doch schloss sie von dem, was die Kappa, und soeben auch Ine selbst, ihr erzählt hatten, dass dem Mädchen eine Reise bevorstand, die ihm viel zu gefährlich werden würde. Und so webte sie einen Zauber, der Ine Naonari und die Beschwerlichkeiten ihres früheren Lebens vergessen lassen sollte. Das Mädchen würde mit ihr auf diesem Anwesen leben, wo es vor jeglichen Angriffen der Youkai sicher und das Wetter immer mild war. Anschließend versteckte sie das Rosenornament, auf dass das Mädchen keinen Grund mehr hat, sich an die Vergangenheit zu erinnern.

Am nächsten Morgen erwacht Ine mit einer inneren Ruhe, wie sie sie lange nicht mehr gespürt hatte. Nach einem ausgiebigen Frühstück führt ihre Gastgeberin sie in den an das Domizil angeschlossenen Garten, wo sich eine Vielzahl fantastischer Tiere in der Frühsommersonne tummeln. Ine lernt sie alle kennen, und ihre Gastgeberin zeigt ihr, wie man sie richtig behandelt und pflegt. Von da an verbringt Ine jeden Tag viele Stunden mit den Kreaturen, und bald versteht sie sie beinahe so gut, als würden sie direkt mit ihr reden. So vergeht die Zeit, aus Tagen werden Wochen, und aus Wochen werden Monate. Eines Tages, als die Hausherrin gerade unterwegs ist, um Besorgungen zu machen, füttert Ine einen alten und riesengroßen Adler. Das Tier verschätzt sich in seiner Bewegung, und pickt ihr versehentlich in die Hand, dass sie blutet. Dabei fällt auch ein Tropfen auf Ines Bluse, wo er sich ausbreitet wie eine rote, sich öffnende Blüte.

Als sie den Blutstropfen so betrachtete, erwachten die Erinnerungen in Ine, die die Zauberin so geschickt unterdrückt hatte. Verzweiflung wallte in ihr auf. Wie lange hatte sie hier verbracht, in der Sonne mit den Tieren gespielt, während Naonari wer weiß was widerfahren sein konnte. So schnell sie konnte, packte sie ihre wenigen Habseligkeiten und etwas Proviant in ein Bündel und verließ das Anwesen, bevor die Zauberin zurückkehrte. Auf ihrer Flucht blickte sie noch einmal zurück, aber dort, wo zuvor das Anwesen stand, war nicht mehr als ein kleiner Erdhügel zu sehen. Mit jedem Schritt, den das Mädchen ging, wurde es kälter, und die Luft verlor ihren Sommerduft, bis sie schließlich den Berg verlassen und ein nebelverhangenes Tal erreicht hatte. Die vereinzelten Bäume waren beinahe kahl, ihre verbleibenden Blätter strahlten in warmen Rot- und Orangetönen, und mit Bestürzung stellte Ine fest, dass es schon später Herbst sein musste. Sie hatte weit mehr als ein halbes Jahr bei der Zauberin verbracht. Entmutigt, und von der Wanderung erschöpft, ließ sie sich neben einem der Bäume zu Boden sinken und war bald eingeschlafen. So saß sie da, während die Dämmerung hereinbrach.

Als Ine erwachte, war bereits tiefste Nacht. Sie fürchtete sich, schließlich hatte die Großmutter ihr eingeschärft, niemals im Dunkeln draußen zu sein, sonst würde sie von Youkai gefunden werden. So versuchte sie, ganz still zu sein, während Wolkenfetzen am Mond vorbeizogen und die Umgebung in ein Wechselspiel aus fahlem Licht und tiefer Dunkelheit hüllten. Nach einer Weile bemerkte Ine ein tanzendes grünes Licht, das sich ihr langsam näherte. Als es schon fast bei ihr war, erkannte sie, dass es nur ein Glühwürmchen war, und entspannte sich etwas. „Ach, liebes Glühwürmchen, bleib doch etwas bei mir“ sagte Ine, „ich fürchte mich so in der Dunkelheit und bin ganz alleine ohne meinen Naonari.“ „Oh, du armes Ding“ begann das Glühwürmchen zu sprechen, „magst du mir diesen Naonari vielleicht beschreiben? Möglicherweise können ich und die Käfer dir weiterhelfen.“ Und so beschrieb Ine dem Glühwürmchen ihren Freund, so gut sie konnte. „Sehr gescheit sagst du also … Möglicherweise weiß ich, wo er ist, könnte schon sein“ Bei diesen Worten geriet Ine ganz außer sich und wollte das Glühwürmchen umarmen, wobei sie es aus Versehen beinahe erdrückte. „Sachte, sachte!“ rief das Glühwürmchen, „ich glaube ich weiß, wo Naonari ist, aber sicher bin ich mir nicht. Diese Person ist auf jeden Fall sehr gescheit, beherrscht Bruchrechnung und alles, aber scheint dich völlig vergessen zu haben. Sie wohnt mit anderen Leuten in einem Haus nahe der Grenze von Gensoukyou. Der Weg ist weit, aber wenn du willst, können wir dich dorthin führen.“

So begannen Ine und die Käfer ihre Reise. Da sie in der Nacht aufgebrochen waren, schlief Ine am Tag, während die Käfer, die das Glühwürmchen befehligte, Beeren und Nüsse sammelten, von denen sie auf ihrer nächtlichen Reise in seinem Lichte speisen konnte. So vergingen mehrere Tage, und eines nachts begann es sogar zu schneien. Glücklicherweise hatte Ine neben der Kleidung aus dem Haus der Magierin auch ihre eigenen Wintersachen mitgenommen, sodass die Kälte ihr wenig ausmachte. Eines Morgens aber, als gerade die Dämmerung anbrach, hieß das Glühwürmchen Ine, stehen zu bleiben. „Weiter als bis hier kann ich dich nicht begleiten, denn in Häusern sind wir nicht gerne gesehen. Doch der Weg ist nicht mehr weit, du siehst es bereits dort drüben. Ich wünsche dir viel Glück.“ Mit diesen Worten trennten sich ihre Wege.

Obschon Ine von der langen Reise erschöpft war, eilte sie mit neuem Mut dem Haus mitten im Nirgendwo entgegen. Voller Anspannung betrat sie die kleine Veranda, und zuckte erschreckt zusammen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sich umdrehend erblickte sie eine dunkelbraune Katze mit einem goldenen Ring im linken Ohr, die definitiv vor wenigen Sekunden noch nicht auf den Stufen gesessen hatte. „Du hast mich aber erschreckt“ sagte Ine, als sie sich zu der Katze hinunterbeugte und die Hand nach ihr ausstreckte. Die Katze kam näher und legte kurz ihre Pfote auf Ines Handfläche, bevor sie an dem Mädchen vorbeiging und sich erwartungsvoll neben die Tür setzte. Ine erhob sich und schob die Tür auf, die nicht abgeschlossen war, woraufhin die Katze im dahinterliegenden dunklen Korridor verschwand.

Vorsichtig tastete sich Ine vor, bis sie eine Tür erreichte, die nicht ganz geschlossen war. Sie linste durch den Spalt, und blickte in einen Raum, in dem eine blonde Frau in blau-weißer Robe an einem Tisch saß und Tee trank. „Bitte, tritt ein, du musst einen langen Weg hinter dir haben“ sagte sie, und deutete auf eine zweite Tasse, die ihr gegenüber auf dem Tisch stand. Als sie Platz nahm, bemerkte Ine außerdem, dass die Frau scheinbar direkt vor einem Haufen goldfarbener Felle zu sitzen schien. „Nun erzähle mir deine Geschichte. Was bringt einen Menschen dazu, sich so weit vom Dorf zu entfernen?“ Und Ine erzählte ihr alles, woraufhin die Frau für den Bruchteil einer Sekunde nachdachte, bevor sie sagte: „Ich muss dich leider enttäuschen, hier wirst du deinen Naonari nicht finden. Dieses Glühwürmchen wird entweder mich oder meine Meisterin gemeint haben. Das ist sehr schmeichelhaft, doch leider kann ich dir ohne entsprechenden Befehl ihrerseits nicht weiterhelfen, und sie wird noch sehr lange schlafen. Aber verzage nicht, die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, dass dein Freund noch lebt. Sollte er wirklich von einer Schneefrau entführt worden sein wäre das sinnvollste Vorgehen, dich nach Norden zu wenden. Das Land dort ist karg, ich werde etwas Proviant und Ausrüstung für dich vorbereiten.“ Ine, die bis jetzt betrübt in ihre Tasse gestarrt hatte, blickte auf, um ihr zu danken, fand die andere Seite des Tisches aber verlassen vor. Verwirrt trank sie ihren Tee aus, der sie nach den Tagen der Wanderschaft erneut mit Kraft und Wärme erfüllte, bevor sie aufstand.

Neben der Tür fand sie einen Rucksack, der zwar schwer, aber so gut gepackt war, dass man ihn trotzdem gut schultern konnte. Auf der Veranda saß erneut die braune Katze, die Ine zum Abschied zwischen den Ohren kraulte, bevor sie sich auf den Weg nach Norden machte. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, aber war inzwischen zu schwach geworden, um den Raureif auf den Grashalmen zu schmelzen, der unter Ines Stiefeln knirschte. Das Mädchen konnte sich des Gedankens nicht erwehren, beobachtet zu werden, und als sie sich umsah, meinte sie, den Kopf eines Fuchses mit goldenem Fell zu sehen, der sich schnell hinter einem Busch zurückzog.

Fortsetzung folgt …