Okinadvent 2023 – 3. Türchen

Heute ist der erste Advent! Vego setzt sich an den Kamin und die Vorlesebrille auf und bringt uns auch dieses Jahr eine mehrteilige weihnachtliche Touhou-Geschichte. Jeden Advent geht sie weiter!

Eine Hütte im Wald

Weit im Osten, jenseits des Sonnenaufgangs und vor den Blicken normaler Menschen verborgen, liegt der Weg in eine andere Welt. Es ist eine winzige Welt, viel kleiner als unsere, und trotzdem ist sie reich an Wundern. Undurchdringliche Bambuswälder, schwebende Schlösser und Sonnenblumenfelder, so weit das Auge reicht, gibt es in diesem Land zu bestaunen, das Gensoukyou genannt wird. Seine Bewohner sind nicht weniger wundersam, denn die Menschen, von denen die meisten gemeinsam in einem einzigen Dorf leben, sind nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Werkreaturen, Wassernymphen und Feen, so vergänglich und sorgenfrei wie Schmetterlinge, leben in Gensoukyou Seite an Seite. Und obwohl es außerhalb des schützenden Menschendorfes viele Gefahren gibt, leben doch einige der Menschen in der Wildnis.

Tief im Wald versteckt und eine knappe Tagesreise vom Menschendorf entfernt, schmiegt sich eine kleine, aber behagliche Hütte an den Fuß eines Hügels. Dies ist die Heimat der Kräuterfrau Tamano. Wie schon ihre Mutter, und deren Mutter vor ihr, lebt sie im Einklang mit den Wesen und Geistern des Waldes und sammelt seltene Pflanzen, um sie als Medizin und edle Gewürze im Menschendorf zu verkaufen, wobei diese Reisen sie jedes Jahr etwas mehr Zeit kosten. Doch seit dem vergangenen Frühling beherbergt die kleine Hütte am Fuße des Hügels noch zwei weitere Bewohner.

Als Tamano auf ihrer ersten Reise nach den kalten Wintermonaten das Menschendorf erreicht hatte und wie gewohnt bei ihrer Nichte Yasu einkehren wollte, musste sie mit Bestürzen feststellen, dass das Haus verlassen war. Wie ihr die Nachbarn erzählten, verließ Yasu an einem eisigen Wintertag das Dorf, das keine Stunde später unerwartet von einem dichten, erdrückenden Nebel eingehüllt wurde. Seitdem wurde sie nie mehr gesehen. Nur ihre beiden Kinder, Harukazu und und Sagoko, verblieben, und befanden sich in der Obhut einer Freundin von Yasu. Doch obwohl für die Kinder gut gesorgt wurde, erkannte Tamano, dass sie nicht glücklich waren. Zu viel erinnerte sie an ihre verlorene Mutter, und so entschloss sich die alte Kräuterfrau, sie trotz ihrer schwindenden Kräfte dazu einzuladen, mit ihr zu kommen. Zuerst zögerten Harukazu und seine Schwester, ihre gewohnte und sichere Umgebung zu verlassen, doch letztendlich entschlossen sie sich doch, ihr Leben im Dorf hinter sich zu lassen und zu ihrer Großtante zu ziehen.

Das Leben so weit abseits von anderen Menschen machte den Kindern zuerst sehr zu schaffen. Es war ruhig so tief im Wald, völlig fremd für die beiden, die doch die engen Gassen und das Stimmengewirr der Bewohner des Menschendorfes gewohnt waren. Doch bald gewöhnten sie sich daran, und fanden Freude an der Freiheit, die sie hier genießen konnten. Tamano schärfte ihnen ein, stets vor Sonnenuntergang wieder daheim zu sein, und besondere Orte, an denen Youkai hausten, zu meiden. Auf ihren Streifzügen sammelten Sagoko und Harukazu Früchte, Beeren und Wurzeln, und gelegentlich fingen sie auch einen Fisch in einem der Bäche, die sich durch die Hügel des Waldes schlängelten. Trotz, oder vielleicht gerade wegen, dieser simplen Zutaten schaffte es ihre Großtante, jeden Tag drei schmackhafte, wenn auch nicht unbedingt üppige Mahlzeiten zuzubereiten.

Doch dann kam der Herbst, und schließlich der Winter. Die Bäche froren zu und die Fische wurden träge, alle Beeren waren verschwunden und der Boden zu hart, um nach Wurzeln zu graben. So mussten die drei des Öfteren hungern. Tamano arbeitete hart, um für sich und die Kinder zu sorgen, doch schließlich ließen ihre Kräfte nach und sie wurde sehr krank. Mehrere Tage lang konnte sie ihr Bett nicht verlassen. „Fleischbrühe“, sagte sie, „Ich brauche Fleischbrühe, um wieder gesund zu werden, und wir brauchen gutes Fleisch, um sie zu kochen. Doch ich kann kein Fleisch holen, und keine Brühe kochen, und nicht gesund werden. Aber wenn ich nicht bald gesund werde, muss ich sterben, und wenn ich gestorben bin, werdet ihr zwei Kinder sicherlich auch verhungern und sterben. Nur Fleisch und Fleisch allein kann uns vor Hunger und Tod bewahren.“

Harukazu und Sagoko wollten nicht sterben, und sie wollten auch nicht, dass ihre Großtante starb. Also machten sie sich frühmorgens auf, um nach Fleisch für die Brühe zu suchen. Doch sie kannten den Weg zum Menschendorf nicht und wussten nur, dass es sehr weit weg war. Tiefer Schnee lag über dem ganzen Wald und glitzerte tröstend in der Morgensonne. Die Kinder waren noch nie so weit von der Hütte weg gewesen, und bestaunten die Umgebung. Hier und dort sahen sie Spuren eines Kaninchens, und immer wieder flatterte eine Fee über ihren Köpfen herum und sang ihr leises Lied, bevor sie zwischen den Bäumen davon huschte. „Sie alle suchen etwas“, sagte Sagoko zu ihrem Bruder, „und ich hoffe, dass sie es finden werden. Die Tage sind so kurz, bald ist die Zeit des Schenkens, glaubst du nicht?“ „Ja, es kann nicht mehr lange sein“, antwortete Harukazu, „dann wird die Frau mit den Geschenken kommen. Vielleicht kann sie ja machen, dass Großtante Tamano wieder gesund wird?“ Und mit diesen angenehmen Gedanken wärmten sich die Kinder auf ihrem Weg durch den Wald.

Fortsetzung folgt nächsten Sonntag …