Okinadvent 2023 – 24. Türchen

Vierfaches Glück

Die Fleischerin saß pfeiferauchend vor ihrem Kamin, in freudiger Erwartung des guten Geschäfts, das sie mit den eingelegten Kindern machen würde. Von einem Moment auf den anderen verlor das prasselnde Feuer an Kraft und sein Licht wurde fahl und schwach. Die Fleischerin erhob sich und ging zur Tür, denn dies war das erste Anzeichen dafür, dass die Youkai hier war. Vor den Fenstern herrschte abgrundtiefe Finsternis, als wären der Mond und alle Sterne, deren Funkeln durch den Schnee die Nacht erhellte, von einem Moment auf den anderen ausgelöscht worden. Die Fleischerin öffnete die Tür und blickte in zwei rotglühende Augen, die inmitten der Finsternis zu schweben schienen. Die trügerische Stimme eines kleinen Mädchens drang an die Ohren der Fleischerin: „Welch Freude für mich in dieser Nacht, und welch Erlös?“ erklang es aus Richtung der Augen. „Große Freude für eine entsprechende Bezahlung erwartet Euch!“ erwiderte die Fleischerin. „Ich habe ein wundervoll saftiges Paar für euch, das bereits im Salz ruht.“

Da zerfaserte die Finsternis und gab den Blick frei auf eine junge Frau, beinahe noch ein Mädchen, dessen blondes Haar im Nachtwind wehte, und dem die Kälte scheinbar nicht das geringste ausmachte. Hinter sich her zog es einen Schlitten, auf dem sich die Kadaver erschlagener Tiere geradezu türmten. Die Fleischerin trat beiseite und ließ ihren Gast eintreten, der zielstrebig zum großen Fass in der Ecke schritt und wartete, bis sie den Deckel öffnete. Genüsslich schmatzte die Youkai und rieb sich die Hände beim Anblick dieses Festmahls. „Wir werden sie noch bis morgen in der Lake reifen lassen. Ich mag sie besonders salzig.“ So verschlossen die beiden das Fass und begannen mit den Verhandlungen. Die Youkai willigte schlussendlich ein, ihr gesamtes gesammeltes Fleisch im Austausch für die beiden Kinder zu geben. So saßen und tranken die beiden noch bis spät in die Nacht.

Nun begab es sich, dass eine Beschützerin der Menschenseelen gerade in Gensouykou war, jenes Wesen, welches die Kinder als die Frau mit den Geschenken kannten. Sie kam auf ihrer jährlichen Runde, um den guten Kindern in den mythischen Welten eine Freude zu bereiten. Am Abend war sie viele Meilen vom Haus der Fleischerin entfernt, und doch hörte sie den langen sanften Klang der Flöten, der vom klirrend klaren Abendwind getragen wurde. Sie wusste, dass es eine der Flöten der Puppenmeisterin war, und verstand, dass Kinder in Gefahr waren. Doch dann erklang ein weiterer Ton, jener, den Sagako verspätet abgegeben hatte, und die beiden Töne bedeuteten, dass die Gefahr nicht direkt lebensbedrohlich war. In der Erwartung, dass ein Kind sich im Wald verlaufen hatte und darum bat, heim gebracht zu werden, beendete sie also zuerst ihre Runde, auf der sie kleine Tonfiguren an den Wiegen von Säuglingen hinterließ, die in der Nacht gegen dunkle Träume kämpfen sollten. Als dies getan war, machte sie sich auf den Weg zu dem Ort, von dem sie die Flötentöne vernommen hatte.

Der Schnee im Wald war tief, und für normale Menschen wäre der Weg eine große Anstrengung gewesen, doch die Frau flog geradezu über die glitzernde weiße Decke, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Dennoch war es bereits tief in der Nacht, als sie das Haus der Fleischerin erreichte, vor dessen Tür die Hilfetöne der Flöten erklungen waren. Als sie eintrat, waren die Fleischerin und die Youkai gerade dabei, noch einmal nach dem Fass mit den Kindern zu sehen, bevor sie sich zur Ruhe begeben wollten. Sie wussten nicht, wer da vor ihnen stand, doch verschlossen eilig das Fass mit der Salzlake. Die Beschützerin hatte den dringenden Verdacht, dass die beiden etwas bösartiges trieben, und dass dieses Fass auf die eine oder andere Art mit der Gefahr für die Kinder zusammenhing. „Ich komme für Fleisch, welches in Salz gepökelt wurde. Gerne hätte ich etwas aus diesem Fass“ sagte sie und wies auf das Fass, welches das kleine blonde Mädchen mit den roten Augen vergeblich hinter sich zu verbergen versuchte. Die Fleischerin wollte daraufhin ihre Pfeife aus der Rocktasche nehmen und entzünden, fand diese aber zurückgelassen auf dem Tisch neben ihrem Sessel am Kamin und unerreichbar, ohne Verdacht zu erwecken. „Das Fleisch in diesem Fass ist nicht gut,“ erwiderte sie also, „Ich habe bessere Ware im Hinterzimmer, und ich werde sie herausbringen.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Bevor sie aber die Tür hinter sich schließen konnte, war auch die Beschützerin hindurch getreten, und hatte ihrerseits die Tür ins Schloss geworfen. Die Fleischerin hatte bereits einen bissigen Kommentar auf den Lippen, doch irgendetwas an der Ausstrahlung ihres Gastes zwang sie dazu, sich zu zügeln.

Das Hinterzimmer war erfüllt von dem rauchigen Aroma von Würsten und Schinken, die hier abhingen, wobei auch eine feine Note von Reiswein und Mohn mitschwang. Etwas weiter hinten stand ein weiteres Fass, ebenso groß wie das erste im Hauptraum, auf welches die Fleischerin zusteuerte. Dieses Fass war allerdings beinahe leer, nur ein kleines Stück Fleisch war noch am Boden verblieben, das gerade so von Salzlake bedeckt war. Nach kurzem Überlegen willigte die Beschützerin ein, dieses Stück zu kaufen, und so beugte sich die Fleischerin tief in das Fass hinein, um es aus dem Fass zu fischen. Da wurde sie an den Knöcheln gepackt und unvermittelt kopfüber in das Fass gezwängt. Die Fleischerin war für einige Sekunden von dieser überraschenden Wendung wie betäubt, und ihr Gast nutzte die Gelegenheit, das Fass zu verschließen. Aus einer ihrer Taschen holte sie außerdem ein Figürchen, das wie eine Kuh mit langen, gebogenen Hörnern geformt war, und setzte es auf den Deckel. Kurz darauf begann der Deckel zu knarzen und sich leicht nach innen zu biegen, als würde das Figürchen rasant an Gewicht gewinnen. Somit war die Fleischerin vorerst unschädlich gemacht.

So kehrte die Beschützerin in den Hauptraum zurück, in dem die blonde Youkai sich inzwischen auf das Fass mit den Kindern gesetzt hatte, um es zu bewachen. „Im Hinterzimmer ist es so finster, dass wir nicht das geringste sehen können“ erklärte die Frau, während sie einer weiteren Tasche ihrer Schürze eine Kerze entnahm, deren rotes Wachs mit gewundenen orangenen Linien verziert war. Mit der Kerze schritt sie zum Kamin und entzündete sie an der Glut, sodass die Kerze hell und klar brannte wie die Sonne. Dieses Licht fiel auf die Youkai, die zu schreien begann, während von ihrem Kleid feine Rauchfäden aufstiegen. Sie beschwor die Finsternis herauf, mit der sie sich sonst vor dem Licht zu schützen pflegte, und stürmte auf die Beschützerin zu. Diese blieb jedoch ruhig stehen, holte Luft und blies auf die Flamme der Kerze. Anstatt aber zu erlöschen, wuchs die Flamme an und löste sich vom Docht, bevor sie die Form eines lodernden Vogels annahm und sich in die Dunkelheit, die die Youkai umhüllte, stürzte. Zersplitterndes Glas und markerschütterndes Kreischen war zu hören, als die Angreiferin aus dem Fenster geschleudert und in die Flucht geschlagen wurde. Somit war auch dieser Feind besiegt.

Nun trat die Beschützerin zum Fass, auf dem die Youkai gesessen hatte, und öffnete es. Vier kleine Füße staken dort in der Salzlake, und mit einem Ruck zog sie die leblosen Körper von Sagoko und Harukazu hinaus. Sie bettete die Kinder auf den Fellteppichen der Fleischerin und entfachte das Kaminfeuer erneut. Dann holte sie aus ihren Taschen zwei kristallene Würfel hervor, die jeder eine außergewöhnlich große Kirschblüte enthielten, und legte sie den Kindern auf die Brust. Als das getan war, nahm sie im Sessel der Fleischerin Platz und wartete. Die Minuten vergingen, und nach einer Weile wurde ersichtlich, dass die im Kristall eingeschlossenen Kirschblüten verblassten und welkten. Doch im gleichen Maße füllten sich die Gesichter der Kinder wieder mit Leben, ihre Wangen wurden rosig, und von Zeit zu Zeit flatterten ihre Augenlider kurz auf, als würden sie lediglich unruhig schlafen.

Harukazu wurde von einem eisigen Windhauch geweckt, der ihm übers Gesicht strich. Als der Junge die Augen aufschlug, blickte er an die Balken einer unbekannten Decke. Abrupt setzte er sich auf, während die Erinnerungen an den letzten Tag in sein Bewusstsein zurückflossen. Der Raum, in dem er neben seiner Schwester in Felle gehüllt geschlafen hatte war verlassen, und durch das zerborstene Fenster pfiff der kalte Wind eines Wintermorgens herein. Neben sich fand er fein säuberlich gefaltet seine Kleider, und auch seine Tasche, die prall gefüllt mit Fleisch, Wintergemüse und Wurst war, als er sie öffnete. Harukazu weckte seine Schwester, und auch in ihrer Tasche war genug Essen für eine lange Zeit. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, und fanden vor dem Haus einen schmalen Pfad vor, der von Schnee befreit war.

Die Kinder folgten dem Pfad, und schon am Mittag befanden sie sich wieder in dem ihnen vertrauten Teil des Waldes. So kamen sie bald auch bei der Hütte ihrer Großtante an, die die beiden bereits sehnsüchtig erwartete. Unter Tamanos Anweisung setzten die beiden einen Topf mit Wasser auf, und kochten eine herzhafte Fleischbrühe, die sie ihr ans Bett brachten. Bald fühlte sich die alte Kräuterfrau wieder besser, und schon am folgenden Tag konnte sie ihre Bettstatt wieder verlassen. Unter ihrer sparsamen Anleitung reichte das Essen, das die Kinder mitgebracht hatten, zusammen mit den Dingen, die sie selbst sammeln konnten, noch den gesamten restlichen Winter über. Und die Kinder brauchten sich nie mehr vor den Youkai der Wälder fürchten, denn wann immer sie in Gefahr waren wussten sie, dass sie nur sanft auf ihren Flöten zu spielen brauchten, um Hilfe holen zu können.