Okinadvent – 4. Türchen

Heute gibt es im Licht der zweiten Hakkero etwas zu lesen. Vego hat eine Weihnachtsgeschichte durch die Hakurei-Barriere hindurchgeschrieben, und Lilin hat dazu eine Illustration angefertigt.

Die Nachbarskinder und der Zauberspiegel

Weit im Osten, versteckt vor den Blicken normaler Menschen und geschützt durch eine wundersame Barriere, liegt der Übergang in eine andere Welt. Es ist eine kleine Welt, für die meisten Begriffe nicht viel mehr als ein einzelnes Land, doch für viele der Bewohner ist diese Welt, die Gensoukyou genannt wird, der letzte sichere Rückzugsort in einer sich stetig ändernden Umwelt und Gesellschaft. Denn Gensouykou ist die Heimat mythischer Wesen, welche als Youkai bezeichnet werden. Vampire und Werwölfe, Oni und Tanuki, Geister und viele weitere Kreaturen sind es, die mit diesem Namen zusammengefasst werden. Aber es gibt auch Menschen in Gensoukyou, die in einem kleinen Dorf leben. Dieses Dorf hat keinen Namen, denn es ist das einzige Dorf in Gensokyou, und so wollen wir es einfach das Menschendorf nennen.

Es ist eng im Menschendorf, denn es wird von Mauern umringt, die seinen Bewohnern des nachts Schutz vor umherstreifenden Youkai bieten sollen. So kann das Dorf sich nicht frei ausbreiten, und insbesondere in den ärmeren Bezirken bedeutet das, dass es nicht genug Platz für jede Familie gibt, einen eigenen Garten zu besitzen. Oft müssen auch mehrere Familien sich ein Haus teilen, sodass jede nur ein Stockwerk ihr Eigen nennen kann. In einer kleinen Gasse, ab von den breiten Hauptstraßen, stehen zwei solcher Häuser sich gegenüber, und im Dachgeschoss eines jeden dieser Häuser wohnen ein Junge und ein Mädchen mit ihren Familien. Sie gehören nicht zu den ärmsten Leuten, denn vor ihren Fenstern ist genug Platz, dass dort zwei Kästen aufgehangen werden können, in denen ihre Eltern Kräuter für die Küche ziehen, und in jedem dieser Kästen wächst außerdem ein Rosenstrauch. Im inneren des Kastens sind die Rosen fein säuberlich gestutzt, dass sie den Kräutern nicht das Licht streitig machen, doch nach außen können sie frei ranken, sie überspannen die kleine Lücke zwischen den Häusern und verflechten sich, bis sie beinahe so unzertrennlich sind sind wie die beiden Kinder.

Rosen in einem Blumenkasten

Der Junge hieß Naonari, und das Mädchen wurde Ine genannt. Für die meiste Zeit des Jahres, wenn es warm ist in Gensoukyou, konnten die Kinder einfach über die Pflanzkästen hüpfen, um sich gegenseitig zu besuchen, und waren doch sofort wieder daheim, wenn die Eltern sie riefen. Im Winter jedoch, wenn frostige Winde durch die Gassen peitschten, mussten die Fenster stets geschlossen bleiben, dass die wertvolle Wärme nicht verloren ging. So wurden die Besuche selten, denn die Kinder mussten nun eine Treppe hinunter, über die eisige Straße, und eine weitere Treppe hinaufsteigen, und ihren Eltern war es sehr wichtig, dass sie wieder daheim waren, noch bevor die Sonne an diesen kurzen Tagen unterging. „Wenn der Tag endet und die Nacht hereinbricht,“ erzählte eines Tags die Großmutter von Naonari den Kindern, die am Fenster saßen und den wilden Tanz der Schneeflocken bestaunten, „und wenn die letzte Wärme des Tages gewichen ist, dann erwachen die Schneefrauen und ziehen durch das Land. Wer ihnen begegnet, den verzaubern sie, dass man die Kälte nicht mehr spürt, und ziehen einen in ihren Bann, auf dass man ihnen auf ihrer nächtlichen Reise folgt, bis man starr gefroren ist. Deshalb gebt stets acht, dass ihr niemals nach der Dämmerung außerhalb unseres Dorfes unterwegs seid.“ Ine begann zu frösteln und wandte sich vom Fenster ab. „Aber was, wenn eine der Schneefrauen hier herein kommt?“ Naonari legte schützend die Arme um seine beste Freundin. „Wenn eine von ihnen es wagt, herzukommen, dann setze ich sie auf den Ofen, dass sie schmilzt wie die Schneeflocken.“ Und die Großmutter strich ihrem Enkel liebevoll durchs Haar, während sie den Kindern Geschichten erzählte.

In einer besonders frostigen Winternacht wurde Naonari plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Noch etwas schlaftrunken dachte er zuerst, dass ihn die Kälte geweckt habe, und wollte sich tiefer in seine Decke einrollen, als ihm ein Schatten auffiel, der sich über sein vom Mondschein durchschienenes Fenster legte. Vorsichtig stieg er aus dem Bett und schlich sich an der Wand entlang, bis er neben dem Fenster stand. Langsam, aber deutlich zu erkennen, wurde das Mondlicht getrübt, als eine dünne Schicht aus Eis sich über das Fenster legte. Seltsame und wundervolle Formen entstanden in den wachsenden Eiskristallen, Blumen und Schlösser und so vieles mehr. Vor Faszination vergaß Naonari seine Furcht und trat direkt vor das Fenster, um die Eisbilder genauer betrachten zu können. Plötzlich wurde der Mond verdunkelt, als eine Gestalt vor dem Fenster auftauchte. Der Junge schreckte zurück und stolperte über seine eigenen Füße, sodass er auf den Boden fiel. Vor seinem Fenster hörte er ein glockenhelles Lachen, das sich schnell entfernte, und als er sich wieder aufgerichtet hatte und noch einmal zum Fenster hinaussah, konnte er nur noch eine fliegende Gestalt erkennen, deren Flügel wie Eiszapfen im Licht des Mondes glitzerten. „Das muss eine der Schneefrauen gewesen sein“ dachte Naonari bei sich, als er sich von seinem Schrecken erholt hatte und wieder in sein inzwischen ausgekühltes Bett stieg. „So garstig scheinen sie überhaupt nicht zu sein, sie wirken eher neckisch. Großmutter ist unnötig besorgt.“ Mit diesen Gedanken versank er wieder im Schlaf.

Die Wochen vergingen, und der Winter wich dem Frühling, und auch dieser machte Platz für einen heißen Sommer. Die Blumen blühten in einer Pracht, wie es die Kinder noch nie gesehen hatten, und die verbrachten zahllose Stunden auf den Wiesen in der Nähe des Menschendorfes, um sie zu bestaunen. Doch die schönsten Pflanzen waren die Rosensträucher vor ihren Fenstern. Hier war es auch, wo das Unglück begann.

An einem lauen Sommerabend saßen die Kinder gemeinsam auf der Fensterbank und blätterten durch eines der Bücher, das sie sich aus der Glocken-Klause, einer kleinen Bibliothek im Menschendorf, ausgeliehen hatten. Zwar verstanden sie die Sprache nicht, in der das Buch geschrieben war, doch handelte es zweifelsohne von fremdartigen Tieren, von denen auf beinahe jeder Seite eine Zeichnung prangte. Ine bestaunte gerade eine Art schlanker, kurzhaariger Ziege, deren lange, gedrehte Hörner erst nach hinten zeigten, bevor sie sich in einem eleganten Bogen wieder nach oben richteten und eine majestätische Gabel bildeten. Naonari hatte sich bereits an dem Wesen sattgesehen und blickte gen Himmel, als ihm ein silbrig glitzernder Schleier auffiel, der wie eine Federwolke durch die Luft flirrte. Doch bevor er seine Freundin darauf aufmerksam machen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz in seinem rechten Auge. Ine blickte erschrocken auf, als sie Naonari neben sich zusammenzucken spürte. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Aua, ich glaube, mir ist irgendetwas ins Auge geflogen, und in meiner Brust brennt es ganz furchtbar!“ Seine Freundin rutschte näher an ihn heran und legte die Hände auf seine Wangen, um sich Naonaris Auge genauer anzusehen, doch sie konnte nichts erkennen. Von einem Moment auf den anderen wurde sein Blick kalt und hart. „Was soll das? Geh weg, mit mir ist alles in Ordnung. Oh, schau, wie furchtbar diese Rose aussieht, ihre Blätter sind von Raupen zerfressen. Und diese hier wächst in einem ganz schiefen Winkel. Sie sehen alle so erbärmlich aus, genau wie die Kästen, in denen sie wachsen.“ Mit diesen Worten riss er eine Blüte nach der anderen von den Rosensträuchern, bevor er auf die andere Seite sprang, durch das Fenster stieg und es hinter sich schloss. Ine war zu schockiert von dem, was gerade passiert war, als dass sie ihrem Freund irgendetwas hätte hinterherrufen können.

Um Naonaris Verhalten zu verstehen, müssen wir dem Menschendorf für einen Moment den Rücken kehren und einige Tage in die Vergangenheit blicken. Weit weit weg, wo es vom Menschendorf aus längst nicht mehr zu sehen ist, schwebt ein Schloss am Himmel. Dieses Schloss beherbergt eine besonders unangenehme Youkai. Ihre Art wird Amanojaku genannt, und sie besitzt die Fähigkeit, alle Dinge in ihr Gegenteil zu verkehren. Mit dieser Macht erschuf sie einen Spiegel, der alles, was sich in ihm reflektiert, ungestalt erscheinen lässt, und alles Gute und Schöne unterdrückt. Die Amanojaku vergnügte sich einige Zeit damit, allem in ihrer Nähe diesen Spiegel vorzuhalten, und zu sehen, wie vortrefflich abstoßend er alles erscheinen ließ. Doch bald begann sie, sich zu langweilen, und so schmiedete sie den Plan, den vermeintlich perfekten Himmlischen den Spiegel vorzuhalten. Mit diesem Ziel begann sie, den höchsten Berg Gensoukyous zu erklimmen. Doch ihr Vorhaben blieb nicht unbemerkt, und eine der Himmlischen ließ den Berg in einem Erdbeben erzittern, um sie aufzuhalten. Dabei entglitt der Amanojaku der Spiegel und zerbarst auf einem Felsen in abertausend Scherben, keine davon größer als ein Sandkorn, die prompt vom Winde davon geweht wurden. Jedes einzelne dieser Bruchstücke verfügte über die Macht des vollständigen Spiegels, und eine Wolke dieser Scherben war es, die Naonari an jenem verhängnisvollen Tag sehen sollte. Doch nicht nur das, als er emporblickte, traf ihn eine der Scherben im Auge, auf dass er die Welt nur noch als einen faden Abklatsch ihrer selbst sehen sollte. Eine weitere Scherbe traf ihn im Herzen, und ließ es starr und gefühllos wie einen Eisblock werden.

Von diesem Tag an sollte der Junge nicht mehr derselbe sein. Wenn seine Großmutter ihm und Ine eine Geschichte erzählte, unterbrach er sie, rutschte auf dem Schemel zurecht, bis er so gebeugt saß wie sie, und fuhr fort, indem er ihre altertümliche Sprechweise imitierte. Damit brachte er die Erwachsenen zum Lachen, die ihn für sehr gescheit hielten. Bald hatte Naonari diese Kunst zur Perfektion entwickelt und war in der Lage, jede einzelne Person nachzuäffen, und alles, was merkwürdig oder missfallend an ihnen war, klar herauszustellen. Auch die arme Ine blieb davon nicht verschont, die ihm doch aus ihrer ganzen reinen Seele zugetan war.

Erneut brach der Winter über das Menschendorf herein, und eines Tages rief Naonari beim Spielen Ine zu sich, und deutete auf seinen Ärmel, wo eine Schneeflocke gelandet war. „Schau, ist das nicht kunstreich? Diese Eisblumen sind so gleichseitig und präzise, wie es nur irgend geht. Es ist kein Makel an ihnen, viel besser, als Rosen mit ihren missliebig gewachsenen Blättern oder du, der dir die Ohren so vom Kopfe abstehen.“

Es war nicht lange nach diesem Gespräch, dass Naonari alleine durch den nahegelegenen Wald ging. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, doch der Junge scherte sich nicht darum, sondern betrachtete weiter die Eiskristalle, die sich im Lichte seiner kleinen Laterne immer noch klar von der dunklen Rinde der Bäume abhoben. So vertieft war er in ihren ebenmäßigen Formen, dass er nicht bemerkte, wie der Schnee hinter ihm begann, aufzuwirbeln. Im inneren dieses Stroms begann, ein besonders großer Eiskristall zu wachsen, der bald die Umrisse einer Frau annahm. Die Gestalt trat an Naonari heran, der sich erschrocken umdrehte, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Das Gesicht, in das er blickte, war weiß wie reinster Schnee, und die Konturen nicht weniger ebenmäßig wie die der Eisblumen, die er so bewunderte. Verzaubert starrte er die Schneefrau an, die sich lächelnd zu ihm herunterbeugte und ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Sofort fiel jedes Gefühl von Kälte und Erschöpfung von dem Jungen ab, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren begleitete er der Frau im blauen Kleid, die ihn mit unter ihren beinahe durchsichtigen Umhang nahm, und bald waren beide verschwunden.

Fortsetzung folgt …